Zandra-Harms-Christiane Rasch-Ausstellungsansicht-raum-für-gäste

 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

auch ich möchte Sie ganz herzlich zu dieser Ausstellungseröffnung begrüßen, die ganz unterschiedliche Arbeiten von Zandra Harms und Christiane Rasch für uns bereithält.

Encore une fois, so heißt der Titel der Ausstellung.

Encore une fois, was so viel heißt wie noch einmal, sagt so viel mehr aus über die beiden Künstlerinnen als die Tatsache, dass sie nun schon zum zweiten Mal zusammen ausstellen. Das war für sie der gemeinsame Nenner.

Encore une fois bedeutet aber auch den zweiten Blick auf Dinge lenken, noch einmal hinschauen und vielleicht gründlicher und intensiver als beim ersten Mal? Dass sollte man beim Betrachten der ausgestellten Arbeiten auf jeden Fall machen.

Encore une fois meint aber auch, den Dingen eine zweite Chance geben, einer anderen Verwendung zuführen oder vielleicht ein zweites Leben.

Und all diese Facetten vereinen die Kunstwerke und die Künstlerinnen in dieser Ausstellung. Zu sehen sind Zeichnungen, Skulpturen und Installationen.

Das unakademische Sehen, das nicht nach Komposition und Pinselduktus schaut, will erleben, ist emotional; es filtert das Wahrgenommene auf seine Weise und kann daher eine besondere Unmittelbarkeit erzeugen. Vielleicht deshalb und nur ganz flüchtig kommen einem gelungene Zeichnungen von Kindern in den Sinn, wenn man den Bildern von Zandra Harms begegnet. Sie scheinen Erlebtes oder Wunschträume darstellen zu wollen, sind aber seltsam entrückt.

Aber nein. Zandra Harms schafft keine Kinderzeichnungen, sie schafft konzentrierte Bilder, die klar ihr Thema zeigen, indem sie alles Überflüssige einfach nicht malt. Stattdessen legt sie größte Sorgfalt auf Farbklänge und Farbnachbarschaften, auf eine kompositorische Ausgewogenheit der Bildgegenstände und minimiert ihre Erscheinung hin zum Kontemplativen. Die Motive findet Zandra Harms im Alltag. Das ausgewählte Stück Alltag kann, wie hier, ein Zelt sein. Ein Motiv, das sie immer wieder aufgreift und immer wieder anders.

Umgeben von der Dunkelheit entsteht ein Raum. Die Pastellfarben werden mit dem Finger und in mehreren dünnen Schichten aufgetragen. Durch das mehrfache Übereinanderlegen von Schichten löst sich der Inhalte vom Untergrund, tritt das Zelt hervor. Wir erleben die Räumlichkeit ganz unmittelbar und direkt und dennoch wirken ihre Zelte von der Realität entrückt.

Im Inneren hell erleuchtet strahlen sie Wärme und Geborgenheit aus. Sie werden zu Orten der Zuflucht, zu heimeligen Orten, zu einem begrenzten zu Hause auf Zeit. Zu präsent sind uns allen die Bilder Geflüchteter im Kopf, als dass wir nicht auch an diese Schicksale denken beim Anblick der textilen Behausungen. Wir versuchen uns vorzustellen, wie es im Inneren ist, in dieser Lage, in dieser Situation.

Zandra Harms vermag es, den industriell gefertigten und technisch perfekten Gegenstand in etwas Einzelnes, sogar Einzigartiges zu verwandeln, als hätte sie dem Ding ein Stück Seele gegeben, ihm mit Finger und Kreide etwas von der Zartheit und dem Verletzbaren eines lebenden Wesens.

Malerei kann das, wenn sie nicht allein wissend und gekonnt, sondern auch derart hingebungsvoll formuliert ist.

An anderer Stelle sind es Gesichter, die einen im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr loslassen. Es sind vor allem die Augen, der Blick der Dargestellten, der einen verunsichert. Als Publikum sollten wir uns die ausgestellten Werke anschauen, stattdessen wird man das Gefühl nicht los, selbst beschaut zu werden, ganz so, als würden die Werkezurückschauen. In der direkten Auseinandersetzung mit den Werken vollzieht sich ein Rollenwechsel, vom Anschauenden zum Anschauungsobjekt.

In einer Zeit, in der wir ständig Gefahr laufen, fotografiert, gefilmt, gescannt und abgehört zu werden, zu einer Zeit, in der die Privatsphäre immer öffentlicher wird, lassen die Bilder einen erschauern, lassen den Blick eher abwenden.

Bleiben die Bilder von Zandra Harms zwangsläufig im Zweidimensionalen verhaftet, erreicht Christiane Rasch mit ihren Installationen die Ausdehnung in den Raum. Ihre raumbezogenen Skulpturen muten klar und strukturiert an. So werden beispielsweise auf einer Art Seziertisch mehrere Objekte ausgelegt, deren Patina und Ablagerungen sie als alt und historisch definieren. Der Tisch ist weniger Präsentationsfläche als viel mehr Arbeitsfläche. Wie bei einem archäologischen Fund scheinen die Artefakte noch diagnostiziert, bewertet und kategorisiert werden zu müssen.

Aber auch hier ist ein zweiter, genauerer Blick unabdingbar. Dieser verrät uns, dass es sich hier um Reste von Styroporverpackungen handelt, die die Künstlerin auf ihren Spaziergängen am Rhein gesammelt hat. Das ursprünglich weiße Material ist verdreckt, zerbrochen und abgenutzt. Ihrer ursprünglichen Bestimmung und Verortung entrissen, werden diese Fragmente zu Artefakten erhoben, scheinbar kostbar, scheinbar fragil, scheinbar schützenswert. Christiane Rasch kombiniert diese Fundstücke mit Abgüssen aus anderen Materialien, wie Porzellan oder Neusilber. Sie spielt mit der Irritation der Betrachtenden, mit der Begegnung mit dem Unerwarteten. Aber gerade das Unerwartete führt zu neuem Denken, bricht Sehgewohnheiten auf. Und auch hier lassen sich die jüngsten Bilder der Flutkatastrophe nicht unterdrücken. Angeschwemmtes Material an Orten, wo es nicht sein sollte, ist uns allen noch vor Augen.

Trotzdem transportieren die Fundstücke von Christiane Rasch eine andere Geschichte. Sie sind eher kostbare Relikte als unerwünschtes Material.

An anderer Stelle fügen sich die Einzelteile einer Vase zu einem neuen Objekt. Dabei scheint es nicht wichtig, die ursprüngliche Form oder Funktion aufzugreifen oder zu begreifen. Vielmehr sind die Fundstücke sind wie geborgene Schätze, die ein neue Wertschätzung erfahren. Nur wenig behandelt, meist mit Farben bemalt, haucht Christiane Rasch ihnen neues Leben ein. Sie macht neugierig auf das in den Objekten Verborgene, deren Geschichte, deren Herkunft, sie wechselt zwischen Künstlichem und Natürlichem, Offensichtlichem und Verborgenem, Innen und Außen. Indem sie dieFundtücke verarbeitet, minimal verändert, mit Farbe Signale setzt, schreibt sie deren Geschichte fort.

Es gibt Künstlerinnen und Künstler, die ihre kreativen Impulse primär aus der Kunst selbst schöpfen, andere wiederum werden maßgeblich von ihrer Herkunft und ihrem gesellschaftlichen Umfeld geprägt, wieder andere treibt die permanente Infragestellung der eigenen Werke an. Zandra Harms und Christiane Rasch bedienen sich aus allen drei Inspirationsquellen gleichermaßen und lassen sie in ihren Werken einfließen. Diese künstlerische Vorgehensweise gleicht einer Collage, bei der die einzelnen Teile aus ihrem ursprünglichen Kontext isoliert und zu etwas völlig Neuem zusammengefügt werden. Auf diese Weise werden mitunter gewohnte Sichtweisen aufgebrochen oder andere Standpunkte vielleicht erst ermöglicht.

Encore une fois, und damit komme ich noch einmal zum Anfang meiner Rede, impliziert nicht zuletzt auch die Motivation, an etwas dranzubleiben.

Encore une fois  impliziert auch das noch einmal, erneut und jetzt erst recht!

Und so wünsche ich mir und Ihnen, dass wir noch viele gemeinsame Ausstellung sehen werde.

Darin sind wir uns vielleicht schon mal einig: Es gibt Räume, Orte, Objekte der Erinnerung und Erfahrung. Das wäre jetzt erstmal die grobe Zusammenfassung von dem, was jetzt kommt. Aber ein Résumé steht eigentlich am Ende. Also: fange ich einfach mal an und taste mich genau wie Sie vor. Auch ich sehe heute alles zum ersten Mal in fertiger Installation. Ich habe mich wenig, eigentlich gar nicht, von Katalogen und Texten über die Arbeit von Zandra und Christiane leiten lassen, sondern nur von den Gesprächen mit den Künstlerinnen und über die Werke, wie ich sie vereinzelt schon im Atelier gesehen habe.

Wie wir nun alle hier so stehen und sitzen, so sind es erst einaml drei große Aquarellimagen, 3 Gesichter, die die Distanz im Raum überbrücken, in einem Blickdreieck die Hauptszenerie der Ausstellung „abstecken“. Sie drängen unseren Blick perfide auf das, was sich hier abspielt – perfide, schmunzelnderweise, denn sie geben vor, genauso Betrachter zu sein wie wir. Was sie herzlich leisten: Sie laden uns ein zu schauen. Hinzuschauen. Wie z.B. auf das Porträt einer Jacke. D.h. eine Porträtserie von 7 Zeichnungen von Zandra Harms. Das Objekt ist der Protagonist, nicht die Personen, soviel sei schon mal vorweggenommen. Die Jacke, die als Objekt den Träger „modifiziert“.

Ich war in Zandras Studio, lange noch, bevor ich Christiane in ihrem Atelier besuchte. Sie sollte mir einfach was erzählen über die Zeichnungen, die sie da bereits fertig hatte. Es waren nicht viele, aber das, wie ich merkte, war gar nicht ausschlaggebend und spricht für die einzelne Beständigkeit der Arbeiten, außerhalb ihrer vollständigen Truppe, der Konstellation von Querverweisen und Einanderzugewandtseins, wie sie hier zu sehen ist.

Es fing alles mit dieser Jacke an – so könnte man es sagen. Zandra erzählte mir von einer Party, auf der irgendwie plötzlich dieses Second-Hand Vintage-Stück in weißem Kunstleder auftauchte. Sie ging reihum. Jeder zog sie mal an. Allein dadurch fiel jeder Einzelne wie in eine andere Rolle, ein anderes Jetzt, konnte dabei beobachtet werden, wie er/sie in eine neue Erfahrung eintrat. Gestik, Tanz war losgelöst von der Person, die man noch vor einem Moment war. Die Jacke machte vielleicht alles möglich. Es überlagerten sich die Gegenwart der Party und die Vergangenheit eines Objekts, der Jacke, deren Vergangenheit, deren Geschichte keiner kannte. So erhielt sie erfundene Erinnerung. Wem hat sie früher gehört? Jeder/jede imaginierte im eigenen Acting die vermeintliche Person des Vorbesitzers.
Was sich hier spielerisch ereignete: Erfahrung von Erinnerung; in diesem Fall fiktive Erinnerung und Geschichte, die zu freier Erfahrung durch einen jeweils individuellen Umgang mit einem Objekt wird.

Man könnte jetzt groß und breit von der Aura der Dinge beginnen. Aber darauf haben weder Sie noch ich jetzt hier irgendeine Lust. Keine Lust auf tiefschürfende Ästhetik und Bildwissenschaft, Hermeneutik…ist auch nicht nötig. Nicht, daß Christiane und Zandra, ihre Werke, sich nicht behaupten könnten in diesem Theoriengerangel. Keine Kunst ohne Diskurs. Doch, ganz sicher, würden sie sich behaupten, aber nicht gezwungenermaßen, denn was sie anbieten ist ein: Es geht auch ohne; und zwar, sobald man sich auf die reine Erfahrung mit den Dingen einläßt. Und wenn auch Räume zu solchen Dingen der Erinnerung und Erfahrung, zu einem Objekt der Erinnerung und Erfahrung werden können, die Erfahrung konzentrieren und festhalten, dann war Christiane in dieser Transformation ihrerseits erfolgreich. Interessanter- wie glücklicherweise kam es so, daß sich die Künstlerinnen – wie ich dann nach meinem Besuch bei Christiane feststellte – unabhängig voneinander in ihrer Arbeit, auf einen Kontext quasi „geeinigt“ hatten. Und alleine in dieser Einigkeit sind sie doch nicht wenig komplex. Wie wäre es nur geworden, hätten sie sich in ihrer Arbeit zu dieser Ausstellung gewissermaßen getrennt entwickelt. Ich war, und muß es zugeben, erleichtert. Aber beide werden schon gewußt haben, warum sie eine Schau zusammen bestreiten. Das kann man ja nun sehen. Wie man auch dieses rostige Skelett eines Pavillons sehen kann, umgeben von Avataren einer möglichen Strandkulisse – die Möglichkeit eines Ortes… Dann: ein Eisblock – vielmehr sein plastischer Avatar – nun, ich verrate nicht, wo er herkommt bzw. wo er erblickt, in der Erinnerung konserviert und von wo er heimgebracht wurde! Es würde die Erfahrung verderben… Daß es ein Eisfels ist, ist schon genug dessen, was verraten werden darf. Ein Eisblock im Karton. Erinnerung hole ich mir per Versand nach Hause, scheint dieses Bild trotzig-pragmatisch zu erklären.

Ist das jetzt schon ein faux-pas der Deutung? Das ist hier nicht relevant. Denn: Funktioniert trotzdem! Dem hinzu treten die objets trouvés von Christiane, von denen jedes liebevoll sein persönliches Wahrnehmungskleinod, mitunter neonbunte Interventionen der Künstlerin erhält. Die Objekte und Orte ihrer Erfahrung empfangen gleichsam ein individuelles Handling, die Übertragung in eine plastische Bildsprache, die sich treiben läßt, die erstmal nicht weiß, wie sie Gedanken der Erinnerung und Erfahrung visuelle wie haptische Form geben wird.

Nochmal: es geht um Erinnerung und Erfahrung, die Erinnerung von Erfahrung, die Erfahrung von Erinnerung. Wie man es dreht und wendet, man kommt da nicht raus. Wichtig dabei: Wir haben zwei Ausgangspunkte der Erinnerung und Erfahrung: die der Künstlerinnen und die der Betrachter, jetzt hier der Besucher der Vernissage. Ein wichtiger Punkt, denn: nochmal auf das Beispiel der Jacke zurückkommend: in diesem Fall ist die Erinnerung eine gezwungenermaßen erfundene. Und genau dieser Moment ist es, den die beiden Künstlerinnen für uns extrahieren. Sich selbst müssen sie dabei ab einem bestimmten Moment ausbremsen, ausschließen, um ihre eigene Erfahrung und Erinnerung – wenn sie auch als Ausgangspunkt dienen – zu der naiven Begegnung zu formen, die sie uns hier mit unserer Erinnerung, Erfahrung und Wahrnehmung bereiten.

Da wir Menschen sind, sind Erinnerungen, und so auch die damit verbundenen Dinge und Orte mit Emotion aufgeladen. Um die Erfahrung und Erinnerung dem Betrachter jedoch möglichst unbelastet zu übergeben, gibt es von den Künstlerinnen einen emotionalen Dämpfer in der konkreten Konstruktion. Motivisch in den Pseudo-Maschinchen von Zandra Harms, die nicht ohne eine Portion Selbstironie auskommen angesichts ihres funktionalen Dilettantismus einer scheinbar professionellen Ingenieurskunst, und in der doch nüchternen Pavillon-Architektur von Christiane Rasch. Das Ausbremsen ist Teil des Verständnisses und der Kenntnis um das emotional-projektive Potential von Memoria.

Das multiple Funktionieren von Erfahrungsmechanismen, die Trigger, für sich selbst, für andere, erweisen sich als tatsächlich. Erinnerung ist ja trügerisch. Ist Erfahrung das nicht? Ist das der Unterschied, der beide zu so kompatiblen Partnern macht? Das Trügerische der Erinnerung verliert damit auch irgendwie die Dramatik des Wortes „Trug“… Und jeder hat ja irgendwie seine Wahrheit und Wirklichkeit. Nicht gerade die neueste Weisheit. Sie kann aber hier erprobt werden.

Und da stieß ich kürzlich noch auf eine ganz nette Stelle in Carlos Castanedas „Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan“. Dort fragt eben jener Don Juan, ein indianisch-mexikanischer brujo, ein Zauberer, der Castaneda im „Sehen“ unterweist: „Hast Du je daran gedacht, daß nur wenige Dinge auf der Welt auf Deine Weise erklärt werden können?“

Hunde blau gelb, artothek, Köln 2014

Aquarell
Zandra Harms weiß um das verführerische Potential des Aquarells und sie nutzt dieses Wissen. Der Schwung und überhaupt die Lesbarkeit der malerischen Geste sind als Spur des Entstehungsprozesses lesbar; das Duftige der Farben und die ernst genommene Rolle des bildtragenden Papiers ergeben eine einnehmende Atmosphäre. Die Farbränder spannen ein Spektrum auf zwischen dem zarten Farbansatz auf Blüten und den Spuren aufgetrockneter Feuchtigkeit, wo auch immer man so etwas einmal gesehen hat. Diese prozessuale Offenheit dieser Technik, ihre handwerkliche Note und nicht zuletzt der Umgang mit Farbe hat immer etwas Verbindliches. Das gilt vor allem dann, wenn man andere Möglichkeiten überdenkt: Ölmalerei ist korrigierbar, Zeichnungen kennen Reuezüge und Radiergummi, Fotos werden in immer größerer Anzahl nicht nur aufgenommen, sondern auch manipuliert und nicht zuletzt auch gelöscht. Das manuelle Auftragen von Farbe im Aquarell und ihr auch mit viel Erfahrung nie ganz kalkulierbarer Verlauf ist ein nicht mehr veränderlicher Vorgang, dessen Resultat man lediglich akzeptieren oder vernichten kann.

Blick
Die Arbeiten von Zandra Harms haben es auch deshalb zunächst leicht, weil sie häufig figurative Bilder sind. Über Jahrhunderte hat sich ein Publikum daran gewöhnt, Abbilder zu erkennen oder eine Bildhandlung an dargestellten Personen ablesen zu können. Im Bildkonsum des Fernsehens sind solche Figuren nahezu Gesetz: Moderatoren, die den Betrachter in aller Regel durch die Kamera ansehen und ansprechen, wechseln sich ab mit Schauspielern, die niemals direkt in die Kamera blicken dürfen, deren Handlungen Zuschauer aber verfolgen dürfen. Die Figuren in den Bildern von Zandra Harms scheinen recht häufig den Blickkontakt zum Betrachter zu suchen – dem ersten Anschein nach. Im zweiten Blick erkennt man gar nicht mehr unbedingt die Richtung des Augenaufschlags. Die Künstlerin etabliert eine Art Interaktion zwischen Betrachter und Bildwelt, deren Regeln weit weniger festliegen als man es gewohnt ist.

Chiffre
Es sind nicht allein die vergleichsweise raumlos auf dem Blatt agierenden Personen, die den Reiz in den Arbeiten von Zandra Harms ausmachen. Gegenstände begleiten sie oder besondere Attribute wie beispielsweise Kleidung. Als weitere Hinweise reihen sich diese Merkmale in die Lesart der als Erzählung gedachten Bilder ein – und charakterisieren die dargestellten Personen näher. Der Künstlerin gesteht man bei einer solcherart reduzierten Darstellung gewiss gerne zu, dass es für die Auswahl dieser speziellen Person und ihres auf Kleidung oder ein Attribut reduzierten Lebensumstands Gründe gibt. Allzu offensichtlich sind diese jedoch nicht; Einordnungen zu einer anekdotischen Sichtweise scheitern an der Unnahbarkeit der reduzierten Szene, der Ansatz einer symbolischen Lesart (wie in Heiligenfiguren) an der mit Bedacht verweigerten Allgemeingültigkeit. Die Bilder bleiben individuelle Szenen, deren Zusammenhänge sich nicht von alleine entschlüsseln.

Diary
Zandra Harms arbeitet gerne in Gruppen von Bildern. Da liegt es nahe, als Betrachter für die Bilder einen Zusammenhang zu suchen, der über eine formale Entwicklungsreihe hinaus geht. Angesichts der ähnlichen Formate, insbesondere bei den kleineren Arbeiten, mag man gerne an Tagebucheinträge denken, die eine eher subjektiv festliegende Verankerung im Seelenleben der Künstlerin haben. Aber Seelenvoyeurismus ist fehl am Platze: weder sind die Bilder naive Bewusstseinsnotate noch sind diese künstlerischen Produkte überhaupt zu irgend etwas sekundär – so wie es ein Tagebuch zu den erlebten Tagen ist. Im Gegenteil: diese knappe und eventuell träumerisch anmutende Form steht in der Mitte der künstlerischen Form, folgt einer individuellen Konsequenz und ist zur Veröffentlichung gedacht.

Elefant
Elefant

Farbe
Hunde sind Dichromaten, das heißt besitzen im Gegensatz zum Menschen nur zwei Spektren, innerhalb derer sie Farben einordnen: blau und gelb. Und diese Farben nehmen Hunde eher blass und abgemildert wahr. Für eine Künstlerin wie Zandra Harms kann eine solche Information – die sonst für die Hundeerziehung wichtig ist – in völlig andere Richtungen führen. Angesichts des großen Spektrums an unterschiedlichen Farben, die einem wahrnehmendem Mensch und ihr als produzierender Künstlerin grundsätzlich zur Verfügung stünden: hat ihr bewusster Verzicht auf ein Schwelgen in Farbe eine humanistische Dimension?

Graphit
Den zu Unrecht Bleistift genannten Graphitstift setzt die Künstlerin vergleichsweise häufig ein. Strichlagen verdichten sich zu Schraffuren und Flächen, die sehr ähnlich wie das Aquarell feine Schattierungen erzeugen können. Die klassischen Anwendungen des Bleistifts sucht man vergebens: Einzelne Linien, um einen Bildraum erschließen oder die Kontur zu klären sind selten. Dafür entstehen Wirkungen aus dem Feld der Malerei: die eigentümlich matte Farbe der Bleistiftlagen und ihr Umgang mit Licht korrespondiert mit den Farbtönen des Aquarells.

Hunde blau gelb
Wer sich auf eine solcherart skizzierte Sicht der Dinge wie in den Arbeiten von Zandra Harms einlässt, sucht nicht selten Zuflucht bei den Titeln der Zeichnungen. Sie zumindest versprechen die Erklärung dessen, was man bei näherem und weiterem Hinsehen immer weniger eindeutig zu fassen sucht. Die bisherige Katalogproduktion von Zandra Harms zeigt, dass sie mit erklärenden Worten recht speziell umgeht. So liefert ihr 2008 erschienener Katalog eine Großpackung möglicher Titel – aber eben auf dem Umschlag versammelt und ohne weitere Zuordnung zum ausschließlich den Bildern vorbehaltenen Inneren des Buchs. So darf man ahnen, dass die Künstlerin neben ihren Bildwelten durchaus von sprachlichen und gedanklichen Phänomenen quer zur üblichen Blickrichtung fasziniert ist. Titel wie „Hund blau gelb“ gönnt Zandra Harms jedoch allenfalls einer Ausstellung, nicht dem einzelnen unbetitelten Bild. Das ist nicht weniger als eine Haltung.

Initialimpulse
Weil der Kunstbetrieb seit langem bereits zu festlichen Momenten neigt, gibt es Vernissagen und Finissagen. Bei der Vernissage wurde das fertige Bild gefirnisst („Vernis“ ist das französische Wort für Firniss) und war damit abgeschlossen. Mit der Finissage gesellte sich ein zweites Ereignis dazu, das dem Vermitttlungsbetrieb gewiss nützlich ist. Zandra Harms braucht ihre Bilder nicht zu firnissen und selbst die Frage, ob die Bilder überhaupt einen Rahmen vertragen, ist nicht immer leicht zu beantworten. Das liegt nicht zuletzt daran, dass diese Arbeiten sich fast von selbst auf den Weg zum Betrachter machen, ihrer materiellen Präsenz bewusst und gleichzeitig auf ihre innere Offenheit bedacht.

Darin sind wir uns vielleicht schon mal einig: Es gibt Räume, Orte, Objekte der Erinnerung und Erfahrung. Das wäre jetzt erstmal die grobe Zusammenfassung von dem, was jetzt kommt. Aber ein Résumé steht eigentlich am Ende. Also: fange ich einfach mal an und taste mich genau wie Sie vor. Auch ich sehe heute alles zum ersten Mal in fertiger Installation. Ich habe mich wenig, eigentlich gar nicht, von Katalogen und Texten über die Arbeit von Zandra und Christiane leiten lassen, sondern nur von den Gesprächen mit den Künstlerinnen und über die Werke, wie ich sie vereinzelt schon im Atelier gesehen habe.

Wie wir nun alle hier so stehen und sitzen, so sind es erst einaml drei große Aquarellimagen, 3 Gesichter, die die Distanz im Raum überbrücken, in einem Blickdreieck die Hauptszenerie der Ausstellung „abstecken“. Sie drängen unseren Blick perfide auf das, was sich hier abspielt – perfide, schmunzelnderweise, denn sie geben vor, genauso Betrachter zu sein wie wir. Was sie herzlich leisten: Sie laden uns ein zu schauen. Hinzuschauen. Wie z.B. auf das Porträt einer Jacke. D.h. eine Porträtserie von 7 Zeichnungen von Zandra Harms. Das Objekt ist der Protagonist, nicht die Personen, soviel sei schon mal vorweggenommen. Die Jacke, die als Objekt den Träger „modifiziert“.

Ich war in Zandras Studio, lange noch, bevor ich Christiane in ihrem Atelier besuchte. Sie sollte mir einfach was erzählen über die Zeichnungen, die sie da bereits fertig hatte. Es waren nicht viele, aber das, wie ich merkte, war gar nicht ausschlaggebend und spricht für die einzelne Beständigkeit der Arbeiten, außerhalb ihrer vollständigen Truppe, der Konstellation von Querverweisen und Einanderzugewandtseins, wie sie hier zu sehen ist.

Es fing alles mit dieser Jacke an – so könnte man es sagen. Zandra erzählte mir von einer Party, auf der irgendwie plötzlich dieses Second-Hand Vintage-Stück in weißem Kunstleder auftauchte. Sie ging reihum. Jeder zog sie mal an. Allein dadurch fiel jeder Einzelne wie in eine andere Rolle, ein anderes Jetzt, konnte dabei beobachtet werden, wie er/sie in eine neue Erfahrung eintrat. Gestik, Tanz war losgelöst von der Person, die man noch vor einem Moment war. Die Jacke machte vielleicht alles möglich. Es überlagerten sich die Gegenwart der Party und die Vergangenheit eines Objekts, der Jacke, deren Vergangenheit, deren Geschichte keiner kannte. So erhielt sie erfundene Erinnerung. Wem hat sie früher gehört? Jeder/jede imaginierte im eigenen Acting die vermeintliche Person des Vorbesitzers.
Was sich hier spielerisch ereignete: Erfahrung von Erinnerung; in diesem Fall fiktive Erinnerung und Geschichte, die zu freier Erfahrung durch einen jeweils individuellen Umgang mit einem Objekt wird.

Man könnte jetzt groß und breit von der Aura der Dinge beginnen. Aber darauf haben weder Sie noch ich jetzt hier irgendeine Lust. Keine Lust auf tiefschürfende Ästhetik und Bildwissenschaft, Hermeneutik…ist auch nicht nötig. Nicht, daß Christiane und Zandra, ihre Werke, sich nicht behaupten könnten in diesem Theoriengerangel. Keine Kunst ohne Diskurs. Doch, ganz sicher, würden sie sich behaupten, aber nicht gezwungenermaßen, denn was sie anbieten ist ein: Es geht auch ohne; und zwar, sobald man sich auf die reine Erfahrung mit den Dingen einläßt. Und wenn auch Räume zu solchen Dingen der Erinnerung und Erfahrung, zu einem Objekt der Erinnerung und Erfahrung werden können, die Erfahrung konzentrieren und festhalten, dann war Christiane in dieser Transformation ihrerseits erfolgreich. Interessanter- wie glücklicherweise kam es so, daß sich die Künstlerinnen – wie ich dann nach meinem Besuch bei Christiane feststellte – unabhängig voneinander in ihrer Arbeit, auf einen Kontext quasi „geeinigt“ hatten. Und alleine in dieser Einigkeit sind sie doch nicht wenig komplex. Wie wäre es nur geworden, hätten sie sich in ihrer Arbeit zu dieser Ausstellung gewissermaßen getrennt entwickelt. Ich war, und muß es zugeben, erleichtert. Aber beide werden schon gewußt haben, warum sie eine Schau zusammen bestreiten. Das kann man ja nun sehen. Wie man auch dieses rostige Skelett eines Pavillons sehen kann, umgeben von Avataren einer möglichen Strandkulisse – die Möglichkeit eines Ortes… Dann: ein Eisblock – vielmehr sein plastischer Avatar – nun, ich verrate nicht, wo er herkommt bzw. wo er erblickt, in der Erinnerung konserviert und von wo er heimgebracht wurde! Es würde die Erfahrung verderben… Daß es ein Eisfels ist, ist schon genug dessen, was verraten werden darf. Ein Eisblock im Karton. Erinnerung hole ich mir per Versand nach Hause, scheint dieses Bild trotzig-pragmatisch zu erklären.

Ist das jetzt schon ein faux-pas der Deutung? Das ist hier nicht relevant. Denn: Funktioniert trotzdem! Dem hinzu treten die objets trouvés von Christiane, von denen jedes liebevoll sein persönliches Wahrnehmungskleinod, mitunter neonbunte Interventionen der Künstlerin erhält. Die Objekte und Orte ihrer Erfahrung empfangen gleichsam ein individuelles Handling, die Übertragung in eine plastische Bildsprache, die sich treiben läßt, die erstmal nicht weiß, wie sie Gedanken der Erinnerung und Erfahrung visuelle wie haptische Form geben wird.

Nochmal: es geht um Erinnerung und Erfahrung, die Erinnerung von Erfahrung, die Erfahrung von Erinnerung. Wie man es dreht und wendet, man kommt da nicht raus. Wichtig dabei: Wir haben zwei Ausgangspunkte der Erinnerung und Erfahrung: die der Künstlerinnen und die der Betrachter, jetzt hier der Besucher der Vernissage. Ein wichtiger Punkt, denn: nochmal auf das Beispiel der Jacke zurückkommend: in diesem Fall ist die Erinnerung eine gezwungenermaßen erfundene. Und genau dieser Moment ist es, den die beiden Künstlerinnen für uns extrahieren. Sich selbst müssen sie dabei ab einem bestimmten Moment ausbremsen, ausschließen, um ihre eigene Erfahrung und Erinnerung – wenn sie auch als Ausgangspunkt dienen – zu der naiven Begegnung zu formen, die sie uns hier mit unserer Erinnerung, Erfahrung und Wahrnehmung bereiten.

Da wir Menschen sind, sind Erinnerungen, und so auch die damit verbundenen Dinge und Orte mit Emotion aufgeladen. Um die Erfahrung und Erinnerung dem Betrachter jedoch möglichst unbelastet zu übergeben, gibt es von den Künstlerinnen einen emotionalen Dämpfer in der konkreten Konstruktion. Motivisch in den Pseudo-Maschinchen von Zandra Harms, die nicht ohne eine Portion Selbstironie auskommen angesichts ihres funktionalen Dilettantismus einer scheinbar professionellen Ingenieurskunst, und in der doch nüchternen Pavillon-Architektur von Christiane Rasch. Das Ausbremsen ist Teil des Verständnisses und der Kenntnis um das emotional-projektive Potential von Memoria.

Das multiple Funktionieren von Erfahrungsmechanismen, die Trigger, für sich selbst, für andere, erweisen sich als tatsächlich. Erinnerung ist ja trügerisch. Ist Erfahrung das nicht? Ist das der Unterschied, der beide zu so kompatiblen Partnern macht? Das Trügerische der Erinnerung verliert damit auch irgendwie die Dramatik des Wortes „Trug“… Und jeder hat ja irgendwie seine Wahrheit und Wirklichkeit. Nicht gerade die neueste Weisheit. Sie kann aber hier erprobt werden.

Und da stieß ich kürzlich noch auf eine ganz nette Stelle in Carlos Castanedas „Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan“. Dort fragt eben jener Don Juan, ein indianisch-mexikanischer brujo, ein Zauberer, der Castaneda im „Sehen“ unterweist: „Hast Du je daran gedacht, daß nur wenige Dinge auf der Welt auf Deine Weise erklärt werden können?“

Zu den Arbeiten von Zandra Harms baut man sofort eine persönliche Beziehung auf. Sie wirken vertraut, nicht zuletzt, weil sie die menschliche Figur oder menschenähnliche Wesen in den Mittelpunkt stellen. Doch in die formal zunächst nahegelegte Eindeutigkeit wird Fremdes eingestellt, so dass die Verhältnisse zwischen Figur und Dingen, Figur und Umwelt gestört werden, uneindeutig und befremdlich, ein wenig auch unheimlich werden. Das Unheimliche kommt nach Freud ja bekanntlich aus dem Bereich des Vertrauten, dem Heimlichen oder Heimeligen, als unterschwellige, nahe Bedrohung. Verstörend wirkt hierbei vielleicht nicht zuletzt die undramatische Gleichgültigkeit, mit welcher die Figuren in den Bildern ihre befremdlichen Situationen als unabänderliche Normalität hinzunehmen scheinen.

Die Zeichnungen und Aquarelle von Zandra Harms sind Bilder für Erwachsene. Wir sind gemeint, das steht außer Frage, aber sie kommen daher wie die Fragen, die die Kinder an uns zu stellen pflegen. Fragen, deren simple Legitimation, zwar, zumindest auf dem zweiten Blick unmittelbar einleuchten, da sie auf zumeist einfachen Beobachtungen und Registrierungen der Umwelt basieren, die wir aber mit unseren vielfach spezialisierten Welterschließungsinstrumentarien oftmals nicht mehr befriedigend zu beantworten wissen. Die Fragwürdigkeiten, die sich nahezu überall in unseren allzu alltäglichen Geschehensabläufen einnisten, sind für die meisten von uns nicht mehr als solche wahrnehmbar. Sie, die Bilder, rühren daher möglicherweise auch an verschüttete Sinnzusammenhänge. Eine simple Entschlüsselung würde nahezu zwangsläufig zu kurz greifen.

Mit ihren Zeichnungen und Bildern vergewissert sich die Künstlerin gleichsam ihrer selbst wie der Welt um sie herum. Zandra Harms begibt sich demnach in ihren Arbeiten auf die Suche nach den Energien des Lebens, mögen sie im Irgendwo zwischen dem Animalischen und dem Spirituellen, zwischen dem Körperlichen und dem Geistigen, zwischen dem Sinnlichen und dem Intellekt angesiedelt sein. Wichtiger erscheint vielmehr, dass diese Energien zwischen eben diesen Polen in Bewegung bleiben und ein ständiger Austausch möglich bleibt. Erlebtes und Gesehenes, Erfühltes und Erdachtes, Vermitteltes und Tradiertes findet ebenso Eingang in ihre Bildwelt, wie das lustvolle und spielerische Kombinieren all dieser Ebenen im freien Fluß bildnerischer oder sprachlicher Assoziationsketten. Die Hand der Künstlerin folgt dabei der Spur, die seit Menschengedenken gezogen wird, um die Essenz dessen, was Leben respektive  Wirklichkeit heißen könnte, zu fassen, sei es als Form oder als Begriff.

Gemäß Botho Strauss befinden sich „die Formen der Welt in unablässiger Fernfühlungnahme, reagieren, antworten, weisen aufeinander, sie schaffen, sie erspielen aus ihrem Variantenübermut ein Gesetz, sie halten sich schließlich an Regeln, die wir nicht kennen. Wir können sie nur beobachten, klassifizieren, wir stellen mühsam Ähnlichkeiten und Veränderungen fest, während sie über Raum und Zeit hin sich lebendig zueinander verhalten und das erschaffen, was wir Sehen und Gesehenwerden, was wir Ding und Organ nennen. Formen selbst sind jener Geist, der über den unseren sich unterhält.“

Bei dieser ‚Unterhaltung’ können ‚Winzige unbedeutende Ereignisse das Gedächtnis bestimmen’ – so der Titel der Ausstellung von Zandra Harms. Ob es aber wirklich der Titel der Ausstellung ist, darüber ließe sich auch bereits spekulieren. Zumindest ist dieser Satz der Abbildung auf der Einladungskarte beigefügt. Angesprochen sind also irgendwelche äußeren Ereignisse, die Einfluß auf unser Inneres, unser Gedächtnis zu nehmen vermögen.

Die Blätter, die hier auf den Wänden der Ausstellungsräume in kalkuliert luftiger Form verteilt sind erzählen von Erkundungen von Orten, Situationen und Beziehungen. Aber mit diesen Blättern und deren Arrangement erkundet die Künstlerin auch gleichzeitig eben diesen Ort der Ausstellung und stellt neue Bezüge und Blickachsen her.

Die Arbeit der Künstlerin beruht auf dem Spiel von Innen und Außen, von gemeinsamem und geteiltem Raum und schließlich von zwei völlig verschiedenen Welten, der menschlichen Gesellschaft und der Tier- oder auch Pflanzenwelt. Die Abbildung auf der Einladungskarte zeigt die Brustbilder zweier Menschen und ein florales Gebinde. Die weibliche Figur links ist dabei deutlich stärker akzentuiert als der Junge zur Rechten. Ist er demnach überhaupt als real anwesend zu denken? Ist nicht der Bezug des Mädchens zur Blumenschleife viel prägnanter? Das Bild könnte also als Erinnerung an eine vergangene Anwesenheit dienen. Es erinnert an eine Erinnerung.

Die Erfahrung der Distanz ist also räumlich und zeitlich zugleich. Durch die Kraft von Erinnerung, Empathie und Vorstellungsgabe sind wir imstande, solche Distanzen zu überwinden und damit in einem gewissen Sinne auch das Hier und Jetzt mitzubegründen.

Ich meine, in diesen Arbeiten erscheint das eigene Selbst als etwas, das nicht stabil ist, sondern wesentlich unter den Mitmenschen und in der Dingwelt verankert ist und auf häufig neu formulierten und veränderten Erinnerungen wie auch auf Vergessenem oder Verdrängtem beruht. Es hängt nicht nur von der Sicht von ‚innen’ ab, sondern auch von den vielfältigen Sichten und Vorstellungen , die von ‚außen’, von anderen kommen.

Zu konstatieren ist eine Spielerische Aktivität mit den Medien der Repräsentation, im Umherschweifen zwischen Zeitlichkeit und Fixierung im Medium. Das Medium, mit der diese Ausstellung hier vornehmlich bestückt ist, ist das der Aquarellzeichnung. Es sind also in erster Linie Arbeiten auf Papier. Aber im Gegensatz zur reinen Bleistiftzeichnung, bei der die Linie, der Strich im Vordergrund steht, erlaubt das Aquarell einen deutlich malerischen und vor allem auch farbigen Umgang auf der Fläche des Bildträgers. Der Gewinn jedoch, der durch die Farbigkeit zweifellos erzielt wird, geht einher mit einem gewissen Grad an Kontrollverlust. Die Widerstände ergeben sich zwangsläufig durch den flüssigen Farbauftrag, die Saugfähigkeit des Papiers oder die Stärke des verwendeten Pinsels, ganz abgesehen von der nicht immer bis ins kleinste zu kalkulierenden Motorik der Hand. Vor Überraschungen ist man demnach nicht zur Gänze gefeit. Zandra Harms weiß diese möglichen produktiven Verfehlungen oder Unwägbarkeiten jedoch kreativ zu nutzen und in ihr Kalkül einzubeziehen. Zu Gute kommt ihr dabei das Interesse für körperliche Mutationen und organische Prozesse. Ihre Figuren entstehen demnach nicht durch photographische, illusionistische Wiedergabe, sondern sie werden lebendig im Spiel der Farben, das sich auf ihnen ereignet. Das passiert auf der Oberfläche des Papiers, auf der Fläche der Form, dadurch wird sie plastisch. Diese Form der Malerei bietet für Zandra Harms die Möglichkeit zur Durchdringung einer Idee mit dem malerischen Experiment, mit dem nur bedingt beeinflussbaren und um so mehr experimentell zu erforschenden Fluss der Farbe. Es ist die Dialektik von Figur und Raum im Bild, von Bild und Prozess. Das zu erleben hat mit unserer Phantasie zu tun, wie wir das, was wir sehen interpretieren und erleben. Dann erst bekommen die Erscheinungen Sinnlichkeit, Sinn, Bedeutung und werden Teil unserer Vorstellung, unserer Konstruktion von Wirklichkeit, die in unserer Wahrnehmung stattfindet und nicht einfach so da ist.  

Zandra Harms versetzt sich in diesen vor-rationalen Erfahrungsraum – einen Raum voll von Verschiebungen , Schwellen und Sackgassen, aber auch von Durchbrüchen und unerwarteten Ausblicken. Oft werden sie zu Schauplätzen geheimer, unvorhersehbarer, zufälliger poetischer Verhaltensweisen. In welcher Beziehung steht der Hund, das Tier zum Mädchen, ist es ein treuer Beschützer oder eine Bedrohung? Warum treten die kindlichen Kreaturen zumeist mit ihrem Double auf? Ist ihre Naivität vielleicht nur vorgetäuscht? Das rätselhafte Wechselspiel zwischen kleidenden Pflanzen und pflanzenartigen Körpern. Stehen diese Pflanzenwelten für idyllische Natur oder für wuchernde Inbesitznahme?

Die Sprunghaftigkeit des spekulativen bildnerischen Denkens korreliert hier aufs Trefflichste mit einer künstlerischen Strategie des Eindeutigkeitsverzichts.

Was zählt, ist daher unser eigener Blick auf das oder den Anderen. Dieser sollte gepaart sein mit Interesse, Liebe und Respekt. Denn wie wir auf die Welt schauen, so blickt sie auch auf uns.

Als ‚metaphysische Drückebergerei’ bezeichnete Helmut Plessner das Denken, dass von der Existenz des Menschen redet, aber vor der biologischen Verklammerung dieser Existenz die Augen verschließt. Die Kunst ist hierbei weit mehr als andere Funktionssysteme wie Religion, Politik, Wissenschaft oder Recht in der Lage, die Pluralität von Komplexitätsbeschreibungen zu akzeptieren.

Die Bilder von Zandra Harms liefern auf poetische Weise Anstöße, um über Sinn und Unsinn unserer Existenz zu reflektieren, im Dialog mit anderen, im Monolog mit unseren Wahrnehmungsweisen und in der Auseinandersetzung mit der sinnlichen Präsenz der Arbeiten. Zur Disposition stehen kunstimmanente Fragestellungen zum Bildraum und zum Raum des Bildes und damit verwoben unsere eigene Verortung in dem unsere Existenz konstituierenden Raum. Denke ich über mich nach, denke ich auch über den Raum, die Menschen und die Dinge darin nach. Die Dingwelt verschiebt sich in die Menschenwelt. Das Verhältnis ist durch gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnet, sie ist das Gefüge des Lebens und alles Seienden. Der Bildraum öffnet sich hin zum eigentlich relevanten Raum – dem Beziehungs- und Resonanzraum zwischen den Menschen. Der Zwischenraum zwischen den Menschen ist der Ort des Kunstwerks, nicht im Sinne einer Behauptung, sondern als Begegnung über viele verschlungene Pfade.

Nicht nur die Wortsprache hat uns etwas zu sagen, auch die Bilder und Dinge reden zu dem, der seine Sensorien zu gebrauchen versteht; von überall her ergehen an unsere Sinne die Winke der Formen, der Farben und der Atmosphären. Hierzu gilt es in ein geradezu physiognomisches Verhältnis zu treten. Während der Prozeß der Zivilisation uns eher lehrt, zu Menschen und Dingen Distanz zu gewinnen, so daß wir sie als Gegenüber vor uns haben, liefert der physiognomische Sinn einen Schlüssel zu all dem, was die Nähe zur Umwelt verrät. Sein Geheimnis ist Intimität, nicht Distanzierung. Diese Intimitäten wahrzunehmen impliziert selbstverständlich auch das Aufgeben eines rein distanzierenden und registrierenden Beobachtens. Zandra Harms teilnehmende Beobachtungen, in die Flachware Malerei übertragen, breiten das Leben dramatisiert und intensiviert vor uns aus.

Wir sollten die Arbeiten der Künstlerin daher als Versuch schätzen lernen, die Lücke zwischen Denken und Vorstellung, zwischen Wort und Tat, Begriff und Anschauung produktiv zu nutzen.